Wesen der Vayus

Die Vayus, die als Winde oder Luftkammern im Körper verstanden werden können, finden zahlreiche Erwähnungen in den alten indischen Schriften. Das gilt auch für die eher praxisorientierten Yogasutren des Patanjali und die Hatha-Yoga Pradipika, was darauf schließen lässt, dass die Vayus einst natürlicher Teil der Yogapraxis sein mussten. Insgesamt werden zehn Vayus beschrieben, fünf äußere und fünf innere. Ich möchte mich heute auf die inneren Vayus beschränken. Diese kennen wir heutzutage wohl eher aus dem Ayurveda und den alten Ayurvedischen Schriften Charaka Samhita und Sushruta Samhita wo den Fünf Vayus bestimmte Körperregionen und Funktionen, die die Vayus kontrollieren, zugeordnet werden. In den Hatha Handbüchern werden die Vayus besonders durch die Regionen ihrer Lokalisation bestimmt. Es handelt sich um Prana-vayu in der Herzregion, um Udana-vayu in der Halsregion, das Samana-vayu sitzt in der Nabelregion, das Apana-vayu in der Anusgegend und das Vyana-vayu durchdringt den ganzen Körper.

Die These besteht nun darin, dass die Vayus eine eigenständige, wesentliche Praxis im Yoga darstellen müssen, die „eine lebendige Verbindung zwischen dem physischen und energetischem Körper [schmiedet]“ (Sen-Gupta, 2014: S.9), und daher von essenziellem Nutzen für die gesamte Yogapraxis sein muss.

Übungen aus den Erfahrungen von Orit Sen- Gupta

Diese These und die dazugehörige Forschung hat die Yogalehrerin Orit Sen- Gupta aufgestellt und ich beziehe mich in diesem Referat insbesondere auf sie und ihre Ergebnisse. Die Grundlage ihrer Forschung bildete, vor allem, die eher kryptische Beschreibung der Vayus in der Gheranda Samhita, in der Gupta eine versteckte Praxisanleitung vermutet. Da es offensichtlich ist, die angenommene Praxisanleitung auch praktisch zu erproben, gelangte Sen-Gupta, neben dem Zusammentragen der Passagen über die Vayus, insbesondere durch das Üben und Ausprobieren zu Ihren Erkenntnissen.

Sie beschreibt ihre Erfahrung wie folgt: „es war, als ob an den jeweiligen Stellen eine zurückhaltende Lebendigkeit existieren würde. Sobald diese Vitalität zugänglich wurde, blühte sie auf.“. (Sen-Gupta, 2014: S.25)

Zugänglich wurde diese Vitalität durch Übungen die sich nach und nach herauskristallisierten.

Die entstandenen Übungen orientieren sich an folgendem Schema: Bei der Atmung in eine der Vayugegenden, zeigt sich bei der Ausatmung ein Punkt, in dem ein Grübchen entsteht. Das ist der jeweilige Vayu-Punkt. Er liegt Beispielsweise beim Prana-vayu mittig in der Zwerchfellregion auf Höhe der untersten Rippen.

Bei der Praxis der inneren Vayus beobachtet man nun durchgängig die Atmung in der jeweiligen Körperregion und konzentriert sich anschließend auf das entstehen des Grübchens an dem Vayu-Punkt, woraufhin man anschließend in die darüberliegende Gegend, in der das Vayu seinen Sitz hat, einatmet. Das wäre beim Prana-vayu die Brustregion. Eine Ausnahme bildet das Vyana-vayu, bei dem die Übung etwas von den Anderen abweicht, da seine Lokalisation im gesamten Körper liegt und bei der Ein- und Ausatmung der ganze Körper einbezogen wird. Die Abfolge wird drei bis fünf Mal wiederholt. Diese Praxis wird als eine Mischung von Pranayama, Meditation und Konzentration auf bestimmte Körperregionen, die dadurch ihre Kraft entfalten, erlebt.

Richtige Grundhaltung

Die grundlegende Erfahrung die Sen-Gupta und viele ihrer Schüler gemacht haben, nachdem sie die Praxis der inneren Vayus fokussiert nacheinander ausgeführt haben war, „als ob die Wirbelsäule durch eine senkrechte Luftsäule verstärkt werden würde.“ (Sen-Gupta, 2014: S.12). Dadurch richtet sich der Körper auf natürliche Weise von innen heraus auf, wodurch eine natürliche und „richtige“ Grundhaltung hergestellt wird, die die Basis für eine weitere Yogapraxis, egal ob für Meditation, Asanas oder für das Pranayma, bildet.

Das besondere an dieser Methode der Aufrichtung und Vorbereitung für weitere Praktiken, ist ihre Einfachheit und die Tatsache, dass sie neben der körperlichen Wirkung auf die Haltung, dem Praktizierendem Zugang zur Essenz, des sonst eher schwer fassbaren Prana-maya-kosha, sowie zur Erfahrung der Sushumna, gewährt.

Nutzen der Praxis

Im Nachfolgenden gehe ich kurz auf den Nutzen der Vayus für das Pranayama und anschließend für die Asanapraxis ein.

Die Praxis der Vayus sorgt, durch die Aufrichtung und Verbesserung der Sitzhaltung für die Auflösung vieler Spannungen im Körper, die häufig während des Pranayamas entstehen können. Insbesondere helfen die Vayus auch die drei hauptsächlichen Bandhas (Mula Badha, Uddiyana Bandha, Jalandhara Bandha) ungezwungen zu beleben und zu aktivieren, so dass der Fluss des Prana besser kontrolliert werden kann. Die Vayus leiten dabei die Bewegung der Bandhas durch ein Zusammenspiel von Atmung und Konzentration sanft und natürlich von innen heraus ein und nicht auf rein mechanische Weise durch starke muskuläre Einwirkung, wie es, vor allem bei Anfängern, häufig der Fall ist. Die Erfahrung die Sen- Gupta beschreibt, legt es nahe, dass das Pranayama durch die Vayus ganzheitlicher und vollkommener wird, da der Atem dadurch sowohl mühelos und sanft als auch kräftig fließen kann und man nicht vor die Entscheidung gestellt wird eines von beiden wählen zu müssen. Das Bewusstsein für die Vayus hilft uns alle Pranyamatechniken präziser und müheloser ausführen zu können.

Essentielle Grundhaltung

Um den Nutzen der Vayus für die Asanapraxis zu verstehen, ist es wichtig zu begreifen wie essentiell die Grundhaltung des Menschen, vor allem die Haltung des Rückens, in Tadasana für die folgende Yogapraxis ist. Denn es stellt sich als unbefriedigendes Anliegen heraus, in den einzelnen Asanas langfristig erfolgreich Korrekturen an der Haltung vorzunehmen, wenn grundlegend eine Fehlhaltung vorliegt. Mit Hilfe der Vayus lässt sich die Haltung in Tadasana von Grund auf „richtig“ und auf lange Zeit einstellen, denn „sie leiten uns von innen her an, unsere Ausrichtung zu finden.“ (Sen-Gupta, 2014: S. 65) so, dass alle weiteren Asanas davon positiv beeinflusst werden. Je nach vorliegender Fehlhaltung empfiehlt es sich bestimmte Vayus zu praktizieren um den Körper wieder zu zentrieren und aufzurichten. Als Beispiel, wird es empfohlen beim Vorliegen einer Fehlhaltung mit aufgeblähtem Brustkorb und Hohlkreuz besonders das Prana-vayu zu üben.

Auch für die einzelnen Asanas sind uns die Vayus von Nutzen, da ihr Miteinbeziehen uns hilft richtig in die Asanas hineinzugehen und die Haltung korrekt aufzubauen.

Zwei Dinge die Yogis anstreben

Schlussendlich lässt sich sagen, dass die inneren Vayus „subtile Tore“ in „innere Räume“ (Sen-Gupta, 2014: S.139) sind, die wir mit Hilfe unserer Aufmerksamkeit und Atmung öffnen können. Was sich durch die Belebung dieser inneren Räume unmittelbar erfahren lässt, ist eine besondere natürliche Art der Aufrichtung und ein beruhigter Geist. Beides Dinge die wir als Yogis besonders anstreben.

Mir scheinen die Vayus als ein wenig bekanntes, zum Teil leider verloren gegangenes Instrument um die Yogapraxis und ihre einzelnen Übungen auf der physischen Ebene von Grund auf „richtiger“ und damit auch effektiver zu machen und die energetischen Prozesse im Körper besser fassen zu können. Diese mit einfachsten Mitteln geschaffene Verbindung zwischen dem physischen Körper und dem Energiekörper, die selbst für den Anfänger nach wenigem Üben schon erfahrbar und nachvollziehbar ist, stellt eine wahre Errungenschaft der Vayus dar. Denn häufig ist die energetische Komponente für viele Yogaschüler lange nicht greifbar, selbst wenn ihre Bedeutung theoretisch verstanden wurde und auch die richtige Körperhaltung fühlt sich oft nicht natürlich und kraftvoll an, sondern sorgt im Gegenteil für neue Verspannungen, wenn sie nicht nachhaltig und von innen heraus aufgebaut wurde, ganz zu schweigen von dem Verständis um das Zusammenspiel dieser beiden Ebenen.

Am Ende lässt sich die tatsächliche Wirkung, Bedeutung und Wahrhaftigkeit der Vayuübungen, natürlich nur in der eigenen Praxis erproben und für jeden Einzelnen beweisen. Mich hat Sen-Guptas Buch durchaus dazu inspiriert, diese Übungen in meine Praxis aufzunehmen und ihnen die Bedeutung zukommen zu lassen, die ihnen vielleicht auch schon früher beigemessen wurde.

von Helena Geier

Quellen:

Sen-Gubta, Orit: Das Geheimnis der Vayus. Die Yogapraxis der Vayus in Asana und Pranayama. Bielefeld: tao.de, 2014.

Muktibodhananda, Svami: Hatha-joga pradipika. Nižnij Novgorod: dekom, 2013 (S. 160-165, 334-356).

Govindan, Maršall: Krijja joga-sutry Patandžali i ciddhov. Moskva: Cattva, 2011 (S. 199ff.).