Ein absolut lesenswerter und sehr interessanter Text darüber, warum unsere Lesefähigkeit und die Gehirnleistung stetig abnehmen und warum wir unbedingt anfangen müssen wieder gedruckte Bücher zu lesen.
In diesem Bericht werden folgende Themen erörtert:
– Wie unser Gehirn durch Internettexte degradiert
– Warum das Lesen von Büchern schwer fallt, bis gar nicht möglich wird
– Warum das Internet eine Droge ist
– Warum das Lesen von komplexen Texten bald nur einer privilegierten Kaste von Menschen vorbehalten wird
In letzter Zeit klagen mehr und mehr Menschen über Probleme ihrer Gehirnfunktion, wie wachsende Zerstreutheit (d. h. über die Unfähigkeit ihre Aufmerksamkeit zu konzentrieren, sich gedanklich zum Lösen von bestimmten Aufgaben zu sammeln), Schwierigkeiten mit dem Erinnern an bestimmte Information, auf physische Unfähigkeit lange Texte zu lesen, von Büchern ganz zu schweigen.
Sie suchen nach Mitteln, die ihre Gehirnleistung und ihr Gedächtnis verbessern können. Dabei, wie paradoxal es auch klingen mag, ist dieses Problem mit der abgeschwächten Gehirnleistung nicht nur und nicht so arg für ältere Menschen charakteristisch, was für ihr Alter angemessen erscheinen würde, sondern eher für Menschen mittleren Alters und Jüngere. Dabei interessieren sich viele nicht einmal für den Grund, was hier eigentlich passiert. Sie schrieben es dem ständigen Stress, Müdigkeit, Umweltverschmutzung, wiederum ihrem Alter usw. zu, obwohl das nicht einmal annähernd die Gründe dafür sind. Unter meinen Patienten habe ich auch viele über 70-jährige, die aber gar keine Probleme, weder mit Gedächtnis, noch mit ihrer Gehirnaktivität haben. Was ist demnach die Ursache?
Die Ursache besteht darin, dass ungeachtet vieler Annahmen, keiner, kategorisch sich von dem tagtäglichem, ständigen “Anschluss an die Information” lossagen möchte. Anders gesagt, die beschleunigte Verminderung Ihrer Gehirnfunktionen fing an dem besonderen Tag an, als Sie sich entschlossen haben, immer “erreichbar” zu sein. Es gibt auch keinen Unterschied, ob das ihr Beruf erfordert, ihre jammernde Faulheit ist oder die elementare Angst “nicht dem Niveau” zu entsprechen, d.h. die Angst ein schwarzes Schaf zu sein, als Narr unter Seinesgleichen abgestempelt zu werden.
Im Jahr 2008 war bereits bekannt, dass der durchschnittliche Internetnutzer nicht mehr als 20 % Text auf einer Internetseite liest und strickt lange Absätze meidet! Mehr noch, die Forschungen haben gezeigt, dass ein Mensch, “der an das Netz angeschlossen ist”, den Text nicht liest, sondern ihn scannt, wie ein Roboter, aus ihm unzusammenhängende Stücke von Information rausreißt, ständig von einem Punkt zum anderen springt und die Information aus der Hinsicht “teilen oder nicht” beurteilt, d. h. “könnte man diese Offenbarung an jemanden weiterleiten oder nicht?”, jedoch nicht mit dem Ziel darüber zu diskutieren, sondern mit der Absicht, Emotionen in Form eines animierten Rülpsers auszulösen, die von kurzen Repliken und Ausrufen im SMS-Format begleitet werden.
Im Laufe der Forschungen hat sich herausgestellt, dass die Seiten im Internet, wie schon erwähnt, nicht gelesen werden, sondern mit den Augen nach einem Muster, das wie der Buchstabe “F” aussieht, abgetastet werden. Der Nutzer liest am Anfang einige Zeilen des Seiteninhalts (manchmal sogar vollständig, von Anfang bis Ende), dann springt er in die Mitte der Seite, wo er noch ein paar Zeilen liest (in der Regel nur noch teilweise, ohne die Zeilen bis zum Ende zu lesen), danach springt er an den Fuß der Seite, um zu sehen “wie die Sache ausgegangen ist”.
Rot – Bereiche, wo sich die Aufmerksamkeit des Lesers besonders lange aufhält.
Gelb – Bereiche, über die darüber geflogen wird.
Blau und grau – Bereiche, die gar nicht gelesen werden.
Deshalb gilt als die effektivste Methode, Information an den durchschnittlichen Nutzer weiterzugeben, die Abbildung der Information in Form einer umgekehrten Pyramide (d.h. nach dem Prinzip, je weiter unten, desto weniger) mit dem unbedingten Hervorheben der Schlüsselwörter (damit die Verbraucher verstehen, was wichtig ist und was nicht) und der Offenlegung von nicht mehr als einem Gedanken pro Absatz. Nur so kann man die Aufmerksamkeit auf einer Seite maximal lange aufhalten. Wenn es mit dem nach unten Scrollen der Seite die Informationsdichte nicht abnimmt, oder sogar zunimmt (wie z. B. in diesem Bericht), bleiben auf solchen Seiten nur die wenigsten.
Meine persönliche Meinung:
Das Internet ist eine reale Droge. Welche Droge? Das ist eine vollkommen unnütze Sache, ohne die jeder Mensch sehr gut leben kann, bis er das einmal ausprobiert. Wenn er das ausprobiert hat, dann entsteht eine lebenslange Abhängigkeit — Drogensucht ist nicht heilbar.
Über Probleme mit der Informationsaufnahme klagen Menschen aller Gruppen und Berufe, von hochqualifizierten Universitätsprofessoren bis zu Mitarbeitern im Service von Waschmaschinen. Von Beschwerden dieser Art hört man sehr oft unter den Akademikern, d. h. von denen, die wegen ihrer Tätigkeit gezwungen sind, eng und täglich mit sehr vielen Menschen zu kommunizieren (lehren, Vorträge halten, Prüfungen abnehmen usw.). Sie sagen, dass der ohnehin niedrige Level von Lesefähigkeiten und Informationsaufnahme derer, mit denen sie arbeiten müssen, von Jahr zu Jahr schlechter wird.
Die Mehrheit der Menschen hat kolossale Schwierigkeiten lange Texte zu lesen, von Büchern ganz zu schweigen. Bereits Blog-Posts in einer Größe von mehr als vier Absätzen erscheinen für viele Menschen zu schwierig, um sie aufzufassen und deshalb langweilig und ohne Wert sich in diese reinzudenken. Es gibt wohl keinen Menschen, der den berühmten Internetspruch “zu viel Text, habe ich nicht geschafft zu lesen” nicht mindestens schon einmal als Antwort auf den Vorschlag, ein paar längere Zeilen zu lesen, bekommen hat. Es kommt zu einem Teufelskreis, erstens, macht es keinen Sinn viel zu schreiben, weil es eh keiner liest und zweitens, die Minderung des Umfangs des zu übertragenden Gedankens zu einer noch größeren intellektuellen Armut nicht nur der Leser, sondern auch der Schreiber führt. Im Endeffekt haben wir das, was wir haben — massenhafte Verblödung.
Sogar Menschen mit guten (in der Vergangenheit) Lesefähigkeiten sagen, dass nach einem Tag Umherirren im Internet und dem Manövrieren zwischen Dutzenden und Hunderten von elektronischen Briefen, sie physisch nicht mehr in der Lage sind, ein interessantes Buch zu anzufangen, da bereits das Lesen der ersten Seite zu einer richtigen Qual wird.
Das Lesen “geht einfach nicht mehr”, weil, vor allem:
a) man das Scannen des Textes, indem man Schlüsselwörter sucht, nicht abstellen kann
b) die in dem “SMS-Rülpser” fehlende, komplizierte Syntax, die für die Mehrheit klassischer Texte, hochinformativer oder wissenschaftlicher Arbeiten charakteristisch ist, nicht mehr verstanden werden kann
Als Resultat muss ein Satz mehrere Male gelesen werden! Die ehrlichen Leser sagen über sich selbst: “Ich bin mir selber zuwider geworden”.
Doch das ist noch bei Weitem nicht alles. Wegen der ständigen Verbindung zum Internet verschlechtern sich schlagartig auch Fähigkeiten, wie das Zurückkehren zu bereits analysierter Information, das Analysieren des Gelesenen und das Einschalten der Vorstellungskraft. Noch schlimmer ist, dass in 80 % der Fälle die Menschen ins Internet wegen zweifelhafter Unterhaltung gehen oder von dort Information mit einem negativen kulturellen Wert schöpfen.
Dabei ist die Mehrzahl der Menschen, vor allem junger an ihre Geräte so gebunden, dass sogar bei einer Drohung während nur eines Tages vom Netz getrennt zu werden, sie nicht nur eine psychische Depression, die grenznah einer Panik ist, verspüren, sondern einen realen physischen Entzug, der an einen Drogenentzug erinnert. Sie glauben es nicht? Schalten Sie doch mal ihr liebstes Handy aus und probieren Sie zumindest für 2-3 Tage ohne auszuhalten.
Es gibt eine Meinung, die ich vollkommen teile. Die Fähigkeit schwierige Texte auffassen und komplexe Literatur lesen zu können wird bald zum elitären Privileg, das nur einer bestimmten Kaste von Menschen vorbehalten wird. Diese Idee ist nicht neu, denn schon Umberto Eco in seinem Roman “Der Name der Rose” vorgeschlagen hat, in die Bibliothek nur den hineinzulassen, der über das Können verfügt und bereit ist komplexes Wissen aufzufassen. Alle anderen werden nur Werbetafeln und das Internet lesen können.
Kurz gesagt, keine Tabletten, keine Nahrungsergänzungsmittel, keine Diäten, keine gehirnstimulierenden Apparate können die Degradation des Gehirns aufhalten. Aufhalten kann sie nur eines, das Stoppen des Eingangs vom allem möglichen Informationsmüll in unser Verarbeitungssystem und das tägliche Beladen des Gehirns mit der sogenannten “nützlichen Information”. Dieser Prozess ist äußerst schwierig, für viele Menschen sogar ganz unmöglich. Für viele ist der Zug bereits abgefahren.
Noch einmal kurz:
1. Geräte, die Ihnen ständigen Anschluss an Information gewährleisten, Smartphones, iPads usw., ohne die Sie jetzt nicht einmal aufs Klo gehen können, machen Sie debil, schwach und apathisch und Ihr Gehirn kaum fähig ist zu denken und zu analysieren. Wie ein jeder Drogensüchtige auch, werden Sie jetzt natürlich vom Gegenteil überzeugt sein. Sie denken fest daran, dass “ihr bester Freund” ihr Leben ungemein farbenfroh, bereichernd, bequem usw. macht und Sie zu einer “sehr entwickelten Persönlichkeit”, die immer auf dem neuesten Stand ist.
2. Dank diesen Geräten dringt in Ihr Gehirn tagtäglich ein ungeheurerer Schwall an Müll, der Ihren Bordcomputer soweit verdreckt, dass Sie nur zum Ausführen von einer primitiven, niedrigqualifizierten Arbeit geeignet sind. Sie sind nicht in der Lage zusammenhängend zu reden, nicht in der Lage zu schreiben oder zu lesen, ihre Rede ist stumpf und voll von Parasitenwörtern. Wenn Sie jemandem von etwas erzählen, haben Sie Schwierigkeiten die nötigen Wörter zu finden, wenn Sie jemandem zuhören, verlieren Sie schnell den Faden und fangen sich an zu langweilen und zu gähnen. Schreiben können Sie nicht, weil Sie praktisch in jedem Wort Fehler machen und die Verwendung von Satzzeichen kennen Sie nicht mal annähernd. Aber Sie können coole Selfies und andere “Müllfotos” machen und klopfen bei jemanden im WhatsApp oder Viber an.
3. Kurz gesagt, Sie hören jetzt eine schlechte Nachricht: den Mobilfunk darf man nur in Ausnahmesituationen benutzen. Zum Beispiel Sie sind in einer fremden Stadt und können eine Person oder Ort nicht finden, hier müsste man auf alle Fälle anrufen. Sie kommen zu spät zu einem wichtigen Termin, Sie müssen anrufen und Bescheid geben. Das heißt Sie müssen ihr Gerät nur auf das Ankommen oder Weitergeben von für Sie wichtiger beruflicher und geschäftlicher Information einstellen. Den Rest der Zeit sollte Ihr Gerät ausgeschaltet sein. Ich kann mir gut denken, dass sogar der Gedanke daran Sie erschaudern lässt.
4. Man muss bereit dafür sein, dass Ihre Umgebung Sie milde gesagt nicht versteht, man wird sagen, Sie seien komisch, verrückt geworden usw. Egal! Denken Sie daran, Sie sind das Objekt eines Informationsangriffs und Sie müssen sich verteidigen. Wie der CBS News Präsident Richard Salant einmal sagte: “Unsere Arbeit ist es, den Menschen das zu verkaufen, was WIR wollen und nicht das, was SIE wollen”.
5. Und zum Schluss: Sie müssen vom neuen Bücher lesen lernen. Richtige Bücher aus Papier, verstehen Sie? Nicht Ihr liebstes Handy und den Bildschirm mit halberblindeten Augen stundenlang betrachten, sondern Bücher lesen. Es wird schwer sein, probieren Sie es aber. Sie müssen sich nicht zwingen, lesen Sie am ersten Tag eine halbe Seite, am nächsten eine ganze Seite, am dritten Tag eineinhalb Seiten usw. Denke Sie aber daran, ihr Organismus wird sich mit allem Mitteln wehren, euch wird übel sein, es wird Sie brechen und es wird Sie zu allen unnützen Handlungen ziehen, Hauptsache damit das Gehirn nicht angestrengt wird.
Ich wünsche Ihnen kein Glück, denn Sie werden etwas ganz Anderes brauchen.
P.S. Denken Sie daran, nur, wenn Sie ihren Konsum ändern, ändern wir gemeinsam die ganze Welt!
Übersetzt aus dem Russischen
Originaltext: https://econet.ru/articles/109152-degradatsiya-mozga-chitat-vsem